Zur Tierhalterhaftung bei Verletzung durch nicht ermittelbares Tier aus einer Herde

OLG München, Urteil vom 19.04.2012 – 14 U 2687/11

Nach der Rechtsauffassung des Senats ist § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB auch dann anwendbar, wenn sich nur bei einem Tier die Tiergefahr konkret schadensverursachend verwirklicht hat, es sich aber nicht mehr feststellen lässt, bei welchem von mehreren verschiedenen Haltern zuzuordnenden Tieren. Dies gilt jedenfalls, wenn dieses Tier zu einer gemeinsamen Herde von Tieren verschiedener Halter gehört, die sich in einem gemeinsamen Pferch befindet oder anderweitig einer einheitlichen und gemeinsamen Überwachung unterliegt (Rn. 20).

1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 30.05.2011, Az. 61 O 188/11, wird zurückgewiesen.

2. Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

Gründe
I.

1
Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche ihres Mitglieds Rupert K. geltend, die kraft Gesetzes auf sie übergegangen sind.

2
In einem mit einem Elektrozaun versehenen Pferch des Beklagten befanden sich acht Schafe, von denen sechs dem Beklagten und zwei einem Herrn L. gehörten. Drei der Schafe, die zwei des Herrn L. und ein Schafbock des Klägers, waren schwarz. Der Zeuge K. wurde in der Nähe des Pferchs am 20.09.2009 von einem schwarzen Tier von hinten angegriffen und umgestoßen. Dabei verletzte er sich erheblich. Die Klägerin musste Behandlungskosten in Höhe der Klageforderung bezahlen. Da die Verletzungen noch nicht ausgeheilt sind, ist mit weiteren Behandlungskosten zu rechnen.

3
Der Kläger behauptet, dass der Angriff von einem der drei schwarzen Schafe aus dem Pferch ausgegangen sei. Dieses Tier sei danach auch wieder zu den anderen sieben Schafen in den Pferch zurückgekehrt.

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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

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Die Klägerin stellte erstinstanzlich folgende Anträge:

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1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 13.181,81 € zu bezahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 8.373,66 € seit 03.11.2009 und aus 4.808,15 € seit 15.09.2010.

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2. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die Aufwendungen zu ersetzen, die sie gegenüber ihrem Mitglied Herrn Rupert K., geb. am 08.03.1948, wohnhaft in M., aufgrund des Vorfalls vom 20.09.2009 in M. erbringen muss, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte, insbesondere Sozialversicherungsträger übergegangen sind.

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3. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 899,40 € zu bezahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 01.12.2010.

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Das Landgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Es war nach der Vernehmung des Zeugen K. davon überzeugt, dass dieser durch eines der drei schwarzen Schafe aus dem Pferch angegriffen und verletzt worden war. Es sei zwar nicht mehr zu klären, welches der schwarzen Tiere konkret den Pferch verlassen habe. Darauf komme es aber nicht an, weil der Kläger nach §§ 833, 830 Abs. 1 Satz 2 BGB als Tierhalter auch dann hafte, wenn eine genaue Zurechnung nicht mehr möglich sei.

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Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten, der seinen erstinstanzlichen Antrag auf Klagabweisung weiter verfolgt.

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Er ist der Auffassung, dass nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung § 830 BGB im Falle der Tierhalterhaftung nur dann anwendbar sei, wenn mehrere Tiere verschiedener Halter den haftungsbegründenden Angriff ausführten, nicht aber, wenn nur ein einziges Tier – wie hier – als Angreifer in Betracht komme. Die Tatsache, dass mehrere Halter ihre Tiere in einem gemeinsamen Pferch untergebracht hätten, reiche nicht aus, um eine Gefahrgemeinschaft nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB zu begründen.

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Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt die Zurückweisung der Berufung.

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Sie hält § 830 BGB hier für anwendbar und ist im Übrigen der Meinung, dass der Beklagte auch Halter der im Eigentum L. stehenden Tiere sei.

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Hilfsweise bestreitet sie nach entsprechendem richterlichem Hinweis zu § 834 BGB, dass sich der Pferch unmittelbar vor dem Vorfall vom 20.09.2009 in einem ordnungsgemäßen Zustand befunden habe und, dass der Beklagte seinen diesbezüglichen Kontrollpflichten nachgekommen sei.

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Der Senat hat keine weitere Beweisaufnahme durchgeführt.

II.

16
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das Landgericht hat den Beklagten zu Recht zum Schadensersatz in dem beantragten Umfang verurteilt.

17
1. Die Feststellung des Landgerichts, dass der Zeuge K. von einem der drei schwarzen Schafe aus dem Pferch angegriffen wurde, begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Dieser ohnehin naheliegende Schluss, da es keinerlei Anhaltspunkte für weitere in der Nähe befindliche schwarze Tiere gibt, beruht auf den Angaben des Zeugen K. Fehler in der erstrichterlichen Beweiswürdigung zeigt die Berufung insoweit nicht auf. Sie sind auch sonst nicht aus der Akte ersichtlich.

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Nicht zu beanstanden ist auch die von der Berufung nicht angegriffene Feststellung, dass es sich bei den acht im Pferch befindlichen Schafen um keine Nutztiere im Sinne des § 833 Satz 2 BGB handelte.

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2. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist der Beklagte nicht als Halter der im Eigentum des Herrn L. stehenden beiden Tiere anzusehen. Zwar muss ein Halter nicht notwendigerweise Eigentümer der Tiere sein. Er muss jedoch aus eigenem Interesse die entstehenden Kosten und das Risiko des Verlustes tragen, worauf bereits mit der Ladungsverfügung vom 20.01.2012 (Bl. 85 d. A.) hingewiesen wurde. Für eine derartige Konstellation ist nichts vorgetragen. Eine Tierhalterhaftung des Beklagten nach § 833 Satz 1 BGB kommt daher nur in Betracht, wenn der Beklagte nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB trotz Unaufklärbarkeit der Identität des den Schaden konkret verursachenden Tieres haftet.

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3. Nach der Rechtsauffassung des Senats ist § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB auch dann anwendbar, wenn sich nur bei einem Tier die Tiergefahr konkret schadensverursachend verwirklicht hat, es sich aber nicht mehr feststellen lässt, bei welchem von mehreren verschiedenen Haltern zuzuordnenden Tieren. Dies gilt jedenfalls, wenn dieses Tier zu einer gemeinsamen Herde von Tieren verschiedener Halter gehört, die sich in einem gemeinsamen Pferch befindet oder anderweitig einer einheitlichen und gemeinsamen Überwachung unterliegt.

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3.1 Zutreffend hat der Beklagte als Berufungsführer herausgearbeitet, dass den bislang zu dieser Problematik bekannt gewordenen Entscheidungen (BGHZ 55,96, Urteil vom 15.12.1970, VI ZR 121/69 und OLG Köln, Urteil vom 17.05.1990, 7 U 191/89) immer ein Sachverhalt zu Grunde lag, bei dem mehrere Tiere verschiedener Halter ein Verhalten an den Tag legten, das geeignet war, den eingetretenen Schaden zu verursachen. Darin unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt, bei dem nur ein Tier den Zeugen K. angegriffen hat. Dieser Unterschied im Sachverhalt spricht für die Rechtsauffassung des Beklagten.

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3.2 Der Senat ist gleichwohl zu der Auffassung gelangt, dass § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB auch in der vorliegenden Sachverhaltskonstellation anwendbar ist. Dafür sind aus Sicht des Senats folgende Argumente ausschlaggebend:

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3.2.1 Ob ein für die Haftung nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB erforderliches anspruchsbegründendes Verhalten vorliegt (Palandt-Sprau, BGB, 71. A., Rn. 7 zu § 830 BGB), ist immer an der natürlichen oder juristischen Person festzumachen, die als “Beteiligter” und damit als Haftender in Betracht kommt.

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Als haftende Beteiligte kommen hier der Beklagte und der weitere Eigentümer zweier Schafe L. in Betracht. Ihr anspruchsbegründendes Verhalten besteht in der Haltung der Schafe in der konkreten Situation mit der sie Dritte der von einem Tier ausgehenden, nur unzulänglich beherrschbaren Gefahr aussetzen (Palandt-Sprau aaO. Rn. 10 zu § 833 BGB). Beide Halter haben ihre Schafe in einem gemeinsamen Pferch in M. untergebracht, der nicht ständig überwacht wurde. Sie haben daher gemeinsam eine auf den konkreten Ort und die konkrete Situation im Schadenszeitpunkt bezogene Gefahrenlage geschaffen.

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Ein wie auch immer umschriebenes “anspruchsbegründendes Verhalten” des beteiligten Tieres oder der beteiligten Tiere ist hingegen nicht Voraussetzung für die Beteiligtenstellung des Tierhalters im Rahmen von § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB. Das tierische Verhalten ist nur relevant im Rahmen des Tatbestandes des § 833 BGB, soweit es um die Frage geht, ob sich die typische Tiergefahr verwirklicht hat.

26
3.2.2 Gegen diese Begründung der ggf. gemeinsamen Haftung des Beklagten und L. lässt sich auch nicht ins Feld führen, die Tiergefahr lasse sich so nicht mehr sicher abgrenzen und die darauf beruhende Haftung werde unkalkulierbar. Auch bei anderen Fallgestaltungen ist die Abgrenzung der Beteiligten von den Nichtbeteiligten unter Umständen schwierig (bei Teilnehmern an einer Großdemonstration aus der heraus Gewalttaten verübt werden z. B., s. Palandt-Sprau, a.a.O. m. w. N.). Auch würde es wohl für eine Inanspruchnahme als Beteiligter nicht genügen, wenn in mehr oder weniger großer Entfernung vom Schadensort ebenfalls Tiere (hier: Schafe) gehalten werden, ohne dass ein Bezug zum Schadensfall hergestellt werden kann. Wo genau die Grenzen zu ziehen sind, muss der Senat hier nicht entscheiden. Vorliegend besteht ein enger organisatorischer Zusammenhang zwischen den beiden Tierhaltern und eine große örtliche Nähe aller Tiere zum Schadensort, die es rechtfertigt, beide Tierhalter als Beteiligte im Sinne des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB anzusehen.

27
3.2.3 Es kommt hinzu, dass die hier aufgetretenen Beweisschwierigkeiten typisch sind für alle Fälle, bei denen mehrere Personen (quasi-)deliktisch handeln. § 830 BGB verfolgt den gesetzgeberischen Zweck, in diesen Fällen Urheberzweifel hinsichtlich des eingetretenen Schadens aus vorrangigen Gerechtigkeitsinteressen zu überwinden, wenn die Beteiligung Mehrerer und des in Anspruch Genommenen fest steht. Es erscheint gerechter, jedem nachweislich Beteiligten zuzumuten, im Einzelfall den Entlastungsbeweis zur Widerlegung der hier normierten Kausalitätsvermutung bezüglich seiner eigenen Handlungen zu führen, als dem unzweifelhaft Geschädigten den positiven Nachweis für die Folgen der Handlungen gerade des in Anspruch Genommenen.

28
Vorliegend ist dem Beklagten der Entlastungsbeweis hinsichtlich seiner fünf hellen Schafe gelungen, jedoch nicht bezüglich des dunklen Schafbocks.

29
3.2.4 Der Bundesgerichtshof hat gerade mit diesen Gerechtigkeitsüberlegungen die bis dahin umstrittene Anwendung des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB auf die Tierhalterhaftung nach § 833 Satz 1 BGB begründet, wenn er ausführt: “Auch in den Fällen der Tierhalterhaftung ist es gerechter, alle haften zu lassen, die sich an der gemeinsamen Gefährdung in einer ihre Haftung begründenden Weise beteiligt haben, als den Geschädigten leer ausgehen zu lassen” (Urteil vom 15.12.1970, VI ZR 121/69, Rn. 8, zitiert nach Juris). Der Senat teilt diesen Standpunkt.

30
3.3 Die weiteren Voraussetzungen des § 833 Satz 1 BGB liegen vor. Eines der Schafe ist aus der Umzäunung ausgebrochen. Ein solcher Ausbruch aus der umzäunten Weide stellt einen typischen Fall der Verwirklichung der Tiergefahr dar (Palandt-Sprau, a.a.O. , Rn. 7 zu § 833 BGB), für die die beiden Halter der Tiere dieser Herde einzustehen haben. Der nachfolgende Angriff auf den Zeugen K. hat auch zu dem jetzt geltend gemachten Schaden geführt.

31
4. Der erstmals im Berufungsverfahren erörterten Frage, ob der Beklagte, der zugleich Tieraufseher im Sinne des § 834 BGB war, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt bei der Kontrolle von Pferch und Tieren hat walten lassen, war angesichts der feststehenden Haftung aus § 833 BGB nicht weiter nachzugehen.

III.

32
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

33
Die Revision war zuzulassen, § 543 Abs. 2 ZPO. Soweit für den Senat erkennbar, betreffen die bisher zur Frage der Anwendung des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB ergangenen Entscheidungen nur Fälle, bei denen mehrere Tiere verschiedener Halter ein Verhalten gezeigt haben, das geeignet war, den eingetretenen Schaden herbeizuführen. Vorliegend haben zwar mehrere Tierhalter für die von mehreren Tieren ausgehende Tiergefahr einzustehen, aber nur ein Tier eines Tierhalters hat die Gefahr verwirklicht.

34
Die Frage, ob auch bei dieser Konstellation die Erwägungen im Urteil vom 15.12.1970 zu einer Haftung des Tierhalters über § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB führen, hat aus Sicht des Senats grundsätzliche Bedeutung.

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